„Deutsche Bahn at its best“ oder „Der Bahnsinn hat einen Namen“

 

Hallo Ihr Lieben,

 

 

 

für mich ist eine Fahrt mit der Deutschen Bahn eines der letzten ernsthaften Abenteuer unserer Zeit – ohne Weiteres vergleichbar mit einer Expedition in einen unerforschten Dschungel Südamerikas. Denn genau wie bei einer solchen Expedition gilt bei einer Reise mit der Deutschen Bahn:

 

Man weiß nicht, wann man ankommt. (Und manchmal auch nicht wo.)

 

Man hat skurrile, um nicht zu sagen exotische Begegnungen mit äußerst seltenen Spezies.

 

Und wenn es hart auf hart kommt, beherrscht der überwältigende Wunsch nach etwas zu essen sämtliche Gedanken.

 

Heute war es bei mir mal wieder so weit: Eine Fahrt von Oldenburg nach Hamburg stand an. Da bei ausnahmslos allen meinen Fahrten in den letzten Wochen irgendetwas schiefgegangen ist und ich heute unbedingt pünktlich sein musste, stellte ich meinen Wecker extra etwas früher, um bei in der App ersichtlichen Problemen ggf. auf einen früheren Zug wechseln zu können.

 

Wenig überraschend, dass ich diese Option beim ersten Blick auf die Echtzeitlage direkt ziehen musste, denn mein eigentlich ausgesuchter Zug fiel aus. Und zwar ersatzlos.

 

Na gut. Zum Glück war ich früh dran.

 

Da ich noch jede Menge vor der Abfahrt erledigen musste, kam ich recht spät am Oldenburger Bahnhof an und schlenderte beschwingten Schrittes Richtung Anzeigetafel, um zu checken, von welchem Gleis der Zug fahren sollte. Ich sah schon von Weitem, dass auf der Tafel ganz rechts in der Zeile mit meinem Zug das WEISSE BAND lief. Erfahrene Bahnfahrer wissen, dass die in unerträglicher Langsamkeit auf dem WEISSEN BAND laufenden Botschaften so ziemlich alles beinhalten können: Von Banalitäten wie „Geänderte Wagenreihung“ über „Heute ohne Fahrradabteil“ bis zu „Verspätung 5 Minuten“. Alles kein Beinbruch. Die Botschaft des WEISSEN BANDES kann aber auch „Zug fällt aus“ lauten. Und genau das stand bei meinem Zug. Dem Zug, den ich als Alternative zu meiner ursprünglich gewählten, aber leider ausfallenden Verbindung nehmen wollte.

 

Ich starrte ungläubig auf das WEISSE BAND und atmete tief durch. Wie lange fährt man noch mal mit dem Auto von Oldenburg nach Hamburg?

 

Schnell checkte ich weitere Möglichkeiten. Eine Regionalzugverbindung blieb als einzige Möglichkeit, hierbei würde ich jedoch quasi keinen Puffer haben, falls irgendetwas schiefgehen sollte.

 

Was angesichts der Tatsache, dass der zweite Zugausfall aufgrund eines Notarzteinsatzes zustande kam, durchaus im Bereich des Möglichen lag. Wobei die in der App zu findende Angabe „Notarzteinsatz zwischen Hannover und Emden“ ein gewisses Maß an Präzision vermissen lässt, sodass ich nicht einzuschätzen vermochte, ob der Regionalzug davon betroffen sein würde.

 

Ich ging zum Gleis hoch, auf dem auch mein gerade ausgefallener Alternativzug 1 gefahren wäre, in der Hoffnung, dort auf einen Bahnmitarbeiter zu treffen, der mir eine verlässliche Aussage geben könnte, ob die Regionalzugverbindung auch von dem Notarzteinsatz betroffen sein würde.

 

Ernsthaft? Ich glaubte ernsthaft, beim Ausfall einer der wichtigsten IC-Verbindungen wäre ein Bahnmitarbeiter am Gleis, um den Zig Fahrgästen eine Auskunft zu geben?

 

Ich gebe zu, eine sehr naive Vorstellung.

 

Angesichts der Schlangen an sämtlichen Schaltern in der Bahnhofshalle gab ich entnervt auf und checkte die Verkehrslage für eine Fahrt mit dem Auto.

 

Dauert zu lange.

 

In meiner Verzweiflung rief ich die Hotline der Nordwestbahn an, die den ersten Teil der Strecke abdecken sollte, und die freundliche Dame erklärte sehr überzeugend, dass ihr keine Störungen bekannt sein.

 

Ich beschloss, es zu versuchen, und wunderte mich, dass doch recht wenig Leute mit mir in die Nordwestbahn stiegen – wo waren denn alle, die ursprünglich mit dem gerade ausgefallenen IC fahren wollten?

 

Ich fand einen Sitzplatz und wollte es mir gerade gemütlich machen, als urplötzlich unglaubliche Horden von Menschen den Zug stürmten. Unter anderem zwei bis drei Schulklassen im Teenageralter.

 

Es wurde so voll, dass innerhalb kürzester Zeit kein Quadratzentimeter Boden mehr frei war. Ich bot meinen Platz einem älteren Ehepaar an, und die Dame setzte sich. Nun stand ich eingequetscht zwischen lauter anderen Fahrgästen im Gang und beobachtete mit wachsender Unruhe, dass immer mehr Schüler versuchten, sich in den Zug zu drängen.

 

Die Abfahrtzeit des Zuges kam. Wir konnten nicht abfahren, weil weiterhin Schüler außerhalb des Zuges waren, die mit aller Macht in den Zug wollten.

 

Ich überlegte hektisch, wieder auszusteigen, um mit dem Auto loszuflitzen, stand aber an dem Punkt des Abteils, der maximal weit von beiden Türen entfernt ist. Na klasse. Da in beide Richtungen etwa fünfzig Leute zwischen mir und der jeweiligen Tür standen (im wahrsten Sinne des Wortes), gab ich diesen Gedanken auf.

 

Meine Erleichterung war mit Händen greifbar, als der Zug sich schließlich vollkommen überfüllt, aber mit nur zwei Minuten Verspätung in Bewegung setzte.

 

Auf unserem Weg nach Bremen standen sieben (SIEBEN!!!) Zwischenhalte an. Auf denen weitere Leute würden zusteigen wollen. 8 Zwischenhalte x 2 Minuten Reinquetsch-Verzögerung = 16 Minuten.

 

Meine Umsteigezeit in Bremen betrug 15 Minuten.

 

Schon beim ersten Halt Wüsting warteten diverse Leute am Gleis. Unter anderem eine Frau mit einem Fahrrad, was zumindest in meinem Innern ein irres Lachen hervorrief.

 

Nie, niemals passt dieses Fahrrad hier rein!!

 

Ich beobachtete, wie die Frau hektisch auf dem Bahnsteig hin- und herlief und überall von aus den Türen hervorquellenden Schülern begrüßt wurde.

 

Ich überlegte kurzfristig, ihr fünfzig Euro anzubieten, damit sie endlich aufgab, um noch eine Chance zu haben, meinen Anschlusszug in Bremen zu erwischen.

 

Die Frau gab auch ohne Bestechung auf.

 

Weiter ging es.

 

Nachdem wir die nächsten Zwischenhalte ohne größere Verzögerungen hinter uns gebracht hatten, begann ich mich zu entspannen und beobachtete die Schülergruppe vor mir.

 

Ich mag Teenager. Wirklich! Ich mag es, wie quietschig und laut sie sind, denn es erinnert mich daran, wie laut und quietschig ich selbst einmal war. Ich mag ihre Gesichter, die sich nicht zwischen der Zartheit eines Kindergesichts und den durch den Charakter geschliffenen Konturen eines Erwachsenen zu entscheiden vermögen. Ich mag ihr Bestreben, erwachsen und seriös zu sein, das sich in ihrem Innern beständig mit dem Wunsch streitet, alles möge so bleiben wie immer.

 

Ich weiß genau, dass ich als Teenager in diesem Alter alles daran gesetzt hätte, möglichst dicht neben meinem Schwarm eingequetscht zu stehen, um die ganze Fahrt über seine Nähe, seinen Duft, seine Aura zu genießen.

 

Ach ja.

 

Herrlich zum Beispiel der Junge da vorn, der einen Sitzplatz ergattert hat und mit seiner Mütze und den über die Augen hängenden Haaren jeden Versuch abwehrt, in seine Seele zu blicken, und der die eindeutig gefakte Gucci-Handtasche seiner Klassenkameradin auf dem Schoß festhält, mit einer zu Herzen gehenden Unbeholfenheit, gepaart mit Stolz, dass er die Tasche halten darf, was das ab und an aufblitzende Lächeln in seinem Blick verrät, den er der Mitschülerin immer wieder verstohlen zuwirft.

 

Pappnasen hoch drei sind dagegen die beiden jungen Frauen, die trotz der vielen älteren Menschen um mich herum stumpf auf den für gebrechliche Menschen vorgesehenen Sitzplätzen sitzen bleiben.

 

Wenn ich schauspielerisch begabt wäre und ein Kissen dabei gehabt hätte, hätte ich liebend gern eine Schwangere gemimt, die spektakulär-dramatisch direkt vor ihren Augen in Ohnmacht fällt und ihnen im Fallen einen überaus tödlichen Blick zuwirft.

 

So langsam bekam ich Hunger. Eigentlich hatte ich geplant, meinen halbstündigen Aufenthalt in Bremen für den Erwerb jeder Menge feiner Reiseleckereien zu nutzen, aber durch den Zugausfall und die Überfüllung reduzierte sich meine Umsteigezeit immer mehr.

 

Mist.

 

Im Metronom gibt’s kein Bordbistro. Da kann ich also nix kaufen.

 

Manno! Ich habe HUNGER!!!

 

Egal. Ich war wahnsinnig dankbar, dass wir überhaupt in Bremen ankamen, und ich meinen Anschlusszug erwischen würde.

 

Als langjähriger Pendler besaß ich die Nerven, mich in die erschreckend lange Schlange bei der Bäckerei zu stellen und genau anderthalb Minuten vor Abfahrt des nächsten Zuges hineinzuspringen.

 

Dieser Zug war erfreulich leer. Ich breitete mich in einem Vierer aus und versuchte, möglichst stinkend, alkoholisiert und pöbelbereit auszusehen, sobald jemand in meine Nähe kam, der den Eindruck erweckte, er wollte sich zu mir setzen. Meine Taktik ging auf und ich genoss die Fahrt in vollen (oder in diesem Fall: leeren) Zügen.

 

Ich kam tatsächlich halbwegs pünktlich in Hamburg an und damit auch bei meinem Termin. Hurra!

 

Als ich fertig war, beschloss ich, mich nicht abzuhetzen und mir noch etwas zu essen zu kaufen, um dann eine schnelle IC-Verbindung zurück zu nehmen. Da die App eine „Sehr hohe Auslastung“ ankündigte, buchte ich in der App ein Ticket mit Reservierung.

 

Am Hamburger Hauptbahnhof angekommen, entdeckte ich auf der Anzeigetafel erneut ein WEISSES BAND neben meinem Zug. „Kein Anzeige von Reservierungen“. Moment mal. Ich habe doch gerade vor fünf Minuten online eine Reservierung gebucht! Und zwar für stolze 4,50 Euro! Wegen der „sehr hohen Auslastung“ Wie kann das sein???

 

Ich fühlte mich eindeutig verarscht. War richtig sauer. Wieso weiß das WEISSE BAND mehr als die App?? Hallo???

 

Und das war noch nicht alles – hinzu kam noch Folgendes: Als Bahn-Experte ahnte ich, dass sich hinter der noch relativ harmlosen Ankündigung, dass keine Reservierungen angezeigt werden würden, in Wirklichkeit etwas anderes verbarg: Nämlich ein ERSATZZUG.

 

Ein ERSATZZUG ist nicht das, was man sich landläufig darunter vorstellt – nämlich ein Zug, der ziemlich genauso ist wie der, den er ersetzt. Mitnichten! Ein ERSATZZUG besteht üblicherweise aus gefühlt vor Jahren ausgemusterten Wagen, und allzu oft verfügen diese Wagen lediglich über Abteile statt Großraum-Plätze. Was die Anzahl verfügbarer Sitzplätze automatisch um etwa die Hälfte reduziert.

 

Mir gelang das, was entweder jahrelange Pendlererfahrung oder das Glück eines Lottogewinners erfordert: Ich stand genau da, wo eine Tür des Zuges zum Stehen kam.

 

Entsprechend fand ich einen Sitzplatz, was ich angesichts der Menschenmassen („Sehr hohe Auslastung“!) als überaus wohltuend empfand.

 

 

 

Liebe Deutsche Bahn, als Fazit meiner heutigen Reise möchte ich 1. ziehen, dass ich nur dank

 

a) meiner vorausschauenden Planung, b) der Bereitschaft meiner Mitreisenden, ölsardinenmäßig gequetscht nach Bremen zu fahren, c) dem Aufgeben der Frau mit dem Fahrrad pünktlich in Hamburg angekommen bin. 2. nehme ich es Euch nicht ab, dass die App nicht weiß, was das WEISSE BAND weiß, nämlich dass ein Ersatzzug kommt, der keine Reservierungen abbilden kann. Das war Abzocke hoch 10!!! Die durch den freundlichen Hinweis „Sehr hohe Auslastung“ noch unmoralischer daherkommt. 3. möchte ich Euch mitteilen, dass ich immer noch gerne Zug fahre. Was nach einem Tag wie heute nicht selbstverständlich ist. Aber ich mag eben Dschungel-Expeditionen.